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2018

Marcy Goldberg

Wer hat Angst vor dem Erwachsenwerden?

In Solothurn wird Christoph Schaub mit einer Werkschau geehrt. Hat sich der einstige Videorebell längst im Mainstream eingemittet? So einfach ist das nicht, wie sein vor dreissig Jahren gedrehter Film «Dreissig Jahre» zeigt.

Franz, Nick und Thomas sind Jugendfreunde. Zehn Jahre wohnten sie zusammen, bis die Kündigung kam. In Zürich – schon damals von Wohnungsnot geplagt – lässt sich natürlich keine gemeinsame Lösung für eine neue Wohnsituation finden, und nach der Auflösung der WG verreist Franz (Joey Zimmermann) für ein Jahr nach Spanien. Zurück in Zürich stellt er fest, dass die einst engen Freunde sich auseinandergelebt haben: Der aufstrebende Hirnforscher Thomas (Laszlo I. Kish) rackert sich im Labor ab und sucht eine Stelle an einer Universität im Ausland; der Musiker Nick (Stefan Gubser) ist von der Bühne ab- und in den Bierhandel eingestiegen, weil Letzteres viel besser rentiert und er die kleine Tochter versorgen muss. Ein weiterer gemeinsamer Freund sitzt nach einem irrwitzigen Raubüberfall im Gefängnis. Und die verheiratete Geliebte Eva wünscht sich nur eine Gelegenheitsbeziehung.

Wir schreiben das Jahr 1988. Die bewegte Zeit der Jugendunruhen von 1980 ist Geschichte, nach der Aufbruchstimmung ist Ernüchterung eingekehrt. Schlimmer noch: Franz wird dreissig. Ihm ist klar, dass alles nicht mehr sein kann wie früher. Die «Zeit der tausend Möglichkeiten» ist vorbei, die «verschworenen Kämpfer für das andere Leben» haben sich längst mit dem Alltag arrangiert. Franz scheint als Einziger den alten Zeiten nachzutrauern. Seine Freunde legen es ihm als Feigheit aus, dass er sich im Leben nicht festlegen kann. Aber macht ihn seine Verweigerung nicht doch zum eigentlichen Helden? Während sich die Freunde eifrig der Buchhaltung oder dem nächsten Auftrag widmen, pocht Franz auf die Freiheit, Kaffeepause zu machen, hat aber trotzdem Mühe mit der Einsamkeit.

Der Charme von Christoph Schaubs Film «Dreissig Jahre» zeigt sich heute, dreissig Jahre später, vor allem in seinem verspielten Blick auf die Kompromisslosigkeit. Etwa in der Szene, in der die Freunde Franz zum Geburtstag mit einem kleinen Fest überraschen. Die Torte ist mit kleinen Knallkörpern dekoriert, in der Form der Zahl 30. Die Geburtstagstorte sprengen: Das Hadern mit dem Älterwerden könnte kaum bildhafter dargestellt werden. Und nach der Explosion isst man die Torte trotzdem.

Abschied von der Bewegung

Auch Schaub selber wurde 1988 dreissig. Begonnen hatte er 1981 im Zeichen der Jugendproteste, als Autodidakt und Mitglied der Mediengenossenschaft Videoladen. Die ersten «Interventionsfilme» entstanden im Kollektiv, 1987 realisierte Schaub dann seinen ersten Spielfilm «Wendel», die Geschichte einer Männerfreundschaft in der Zeit nach dem Ausnahmezustand von 1980. Es war ein bewusster Abschied vom expliziten politischen Engagement, hin zu einer persönlicheren Erzählweise, die aber dennoch von der launischen, ambivalenten Stimmung der späten Achtziger geprägt war. Sein zweiter Spielfilm «Dreissig Jahre» erlaubte es Schaub dann, sich noch ausführlicher mit den Befindlichkeiten seiner Generation auseinanderzusetzen. Beide Drehbücher schrieb er zusammen mit Martin Witz, unter Cast und Crew fanden sich weitere KollegInnen aus der Videoladen-Zeit.

Nach einer dritten Arbeit in diesem Register («Am Ende der Nacht», 1992) verabschiedete sich Schaub für lange Zeit von der Fiktion. Er drehte eine Reihe von Dokumentarfilmen, vor allem über Architekturthemen, zum Spielfilm kehrte er erst 2001 mit «Stille Liebe» zurück, der tragischen Liebesgeschichte über eine Nonne und einen Taschendieb, die über ihre Gehörlosigkeit zueinanderfinden. Hier thematisiert Schaub also wieder die Rebellion und das Aussenseitertum, doch in der Bildsprache und der Erzählweise bewegt er sich weg vom Cinéma-Copain-Stil seiner früheren Werke.

Und wieder fliegt die Torte

Mit der ursprünglich fürs Fernsehen produzierten Komödie «Sternenberg» (2004) begann für Schaub eine neue Schaffensphase mit einem deutlich populären Touch, bis hin zu seinem grössten Publikumserfolg mit «Giulias Verschwinden» (2009), nach einem Drehbuch des Bestsellerautors Martin Suter. Wie einst in «Dreissig Jahre» fliegen in «Giulias Verschwinden» nochmals Tortenstücke durch die Luft – diesmal aber im Altersheim, als sich die unangepasste achtzigjährige Léonie gegen die verlogene Fröhlichkeit des Geburtstagsfests stellt.

Bis heute geht es bei Schaub also immer wieder um den Wunsch seiner Filmfiguren, aus dem Alltag auszubrechen und ihr Leben in Bewegung zu bringen. Oder wie Franz in «Dreissig Jahre» einst sagte: «Spuren hinterlassen auf dieser Welt» – auch wenn die Ordnung in den meisten Fällen am Schluss wieder einkehrt. Wie in «Giulias Verschwinden», wo die Titelheldin lieber gar nicht zu ihrem Fünfzigsten erscheinen möchte. Während ihre Gäste mit wachsender Besorgnis auf die fehlende Jubilarin warten, witzelt die Runde übers Jungsein wie auch übers Älterwerden. In einer Umkehrung der Parole der Jugendbewegung «Trau keinem über 30» findet eine Kollegin, jetzt täten ihr die Jungen leid – weil sie noch zu viel vom Leben erwarten würden.

«Was machst du mit sechzig?»

In «Dreissig Jahre» sticheln Franz und seine Freunde einmal gegeneinander mit der Frage: «Was machst du mit sechzig?» Damit meinen sie wohl: «Wie bleibst du dir selber treu?» Und wie steht es um Christoph Schaub mit sechzig? In einem Porträt des Schweizer Fernsehens von 2013 meinte er selbstironisch: Als er jung gewesen sei, habe er Regisseure, wie er nun einer sei, eigentlich gehasst. Darin liegt aber auch das Paradox des Älterwerdens – oder eigentlich des Überlebens. Nicht wenige gingen ja an den «Jugendunruhen» und ihren Folgen zugrunde. Diese selbstzerstörerische Schattenseite des jugendlichen Unmuts hat Schaub bereits in «Wendel» thematisiert.

Es wäre freilich zu einfach, ihn als Opfer seines eigenen Erfolgs zu sehen. Denn in gewisser Weise lässt sich an Schaubs Karriere die Entwicklung des Schweizer Filmschaffens im Allgemeinen ablesen: vom rebellischen Nischendasein hin zu grösseren Publikumserfolgen und zu einer Bildsprache, die mit dem internationalen Mainstream mitzuhalten versucht – ohne dabei die Sicht auf Aussenseiter und Unangepasste zu verlieren. In der globalisierten Medienlandschaft von heute muss man eher darum kämpfen, dass solche lokalen Geschichten überhaupt noch erzählt werden können.

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